»Da werden sie noch so viel suchen können, die Herrn Singer und wie sie alle heißen, in den diversen Aktenbündeln, die sie da ‹zurechtsuchen›. Sie werden nichts finden. Wir waren anständig.« (Kurt Waldheim 1986)
Am 3. März 1986 erscheint im Nachrichtenmagazin profil ein Artikel mit dem Titel Waldheim und die SA, in dem der Journalist Hubertus Czernin eine Abbildung der »Wehrstammkarte« Kurt Waldheims veröffentlicht, die jahrzehntelang im Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs lag. Demnach war der von der ÖVP nominierte Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten Mitglied der Sturmabteilung (SA) und des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) – Waldheim selbst hatte Czernin die Einsichtnahme in seinen Wehrmachtsakt gewährt. In einer ersten Reaktion betont Waldheim, er habe niemals eine Beitrittserklärung unterschrieben. Er könne sich das nur so erklären, dass er, ein leidenschaftlicher Reiter an der Konsular-Akademie, ohne sein Wissen, einer SA-Reiterstandarte zugeordnet wurde. Außerdem wisse doch jeder, dass er aus einem katholisch geprägten Elternhaus stamme und zeitlebens antinazistisch eingestellt gewesen sei. Tags darauf veröffentlicht die New York Times ein Foto, auf dem Waldheim in Wehrmachtsuniform an der Seite von SS-Gruppenführer Arthur Phleps im jugoslawischen Podgorica zu sehen ist. In den folgenden Wochen berichtet Czernin davon, dass Waldheim 1941 an der Ostfront verwundet wurde, im Jahr darauf, wieder als »kriegsdienstverwendungsfähig« eingestuft, in Jugoslawien und ab 1943 in Saloniki stationiert war, bei der Heeresgruppe E unter General Alexander Löhr, der 1947 in Jugoslawien als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde. Der Kandidat hatte in seiner Autobiografie, Im Glaspalast der Weltpolitik, die kurz vor Bekanntgabe der Kandidatur erschienen ist, die Kriegsjahre nur flüchtig gestreift: Verwundung an der Ostfront, nach Genesung Heirat und Abschluss des Jus-Studiums; und dann stand da noch der lapidare Satz: »Knapp vor Kriegsende befand ich mich im Raum von Triest.«
Waldheims größter Trumpf, seine weltweite Bekanntheit – er war von 1972 bis 1981 Generalsekretär der Vereinten Nationen, gewissermaßen der höchste Beamte der Welt – wird ihm nun zum Verhängnis: Journalisten und Historiker durchforsten Archive in Österreich und den USA. Beinahe im Tagesrhythmus tauchen Dokumente und Fotos auf, die Waldheim massiv belasten. Und dann ist da auch der World Jewish Congress (WJC): Die internationale Vereinigung jüdischer Gemeinschaften und Organisationen, die als Nichtregierungsorganisation im Rahmen der Vereinten Nationen aktiv ist, thematisiert vor allem die Rolle Waldheims als Dolmetscher und Aufklärungsoffizier in Jugoslawien und Griechenland. Von ihm verfasste Lageberichte, unterzeichnet mit seiner Paraphe (»für die Richtigkeit: W.«), lassen nur einen Schluss zu: Er muss von Kriegsverbrechen am Balkan (»Partisanenbekämpfung«) und von den Massendeportationen griechischer Juden aus Saloniki gewusst haben.
Waldheim spricht von »haltlosen Anschuldigungen«, von einer »großangelegten Verleumdungskampagne« (»Kämpään«, wie er sagt), hinter der das »Ausland« und die »Ostküste« stecke. Er habe seine Kriegsvergangenheit nie geleugnet, aber, wie er weiterhin behauptet, persönlich nichts von Gräueltaten gewusst und von Judendeportationen mitbekommen. Bezüglich seiner Mitgliedschaft bei den Nazi-Organisationen mochte er nun zwar nicht mehr ausschließen, dass ihn »irgendeiner meiner Verwandten« eingetragen habe – freilich, ohne sein Wissen. Im Übrigen habe er nur »seine Pflicht getan – wie Hundertausende andere anständige Österreicher auch«. Und die ÖVP schließt die Reihen hinter ihm: »Jetzt erst recht für einen Kandidaten, der wie keiner verschmutzt, beschmutzt und besudelt wurde in den letzten Jahrzehnten, sodass es überhaupt der politischen Kultur diesem Land ungeheuer weh getan hat.« (Alois Mock, Bundesparteiobmann der ÖVP)
Es ist vor allem der Satz, »Wir waren anständig!«, und der tosende Applaus, mit dem die Menschenansammlung auf diesen Satz reagiert, der mich beim Betrachten eines Ausschnitts aus einer Rede Waldheims, aufgenommen auf einer Wahlkampfveranstaltung in irgendeiner österreichischen Kleinstadt, zucken lässt. Man sieht Waldheim, wie er beim Sprechen des Satzes lächelt und seine Hände weit ausstreckt, als wolle er die Menge umfassen. Neben ihm steht seine Frau, dahinter Alois Mock und andere ÖVP Granden. Der Ausschnitt findet sich in Ruth Beckermanns Filmessay, Waldheims Walzer. Die Regisseurin hat in ausländischen Rundfunkarchiven nach Filmaufnahmen gesucht, die während des Bundespräsidentschaftswahlkampfes 1986 entstanden sind und in Österreich nicht zu sehen waren – weder damals noch später – und sie hat dieses Material, zusammen mit ORF-Archivmaterial und mit von ihr selbst gedrehten Videoaufnahmen zusammenmontiert. Beckermann war gewissermaßen als embedded journalist bei den Anti-Waldheim-Demos dabei und hat auch bei den Pro-Waldheim Veranstaltungen gefilmt.
Auch wenn ich diese Zeit sehr bewusst miterlebt und auch selbst an der Anti-Waldheim-Kundgebung am Stephansplatz teilgenommen habe, die im Film zu sehen ist, so konnte ich doch erst jetzt, dank Beckermanns Film, so manche Reaktionen (von beiden Seiten) besser einordnen, als ich das damals konnte. Ich bin mir auch ziemlich sicher, hätten die Österreicher die langen Ausschnitte aus der Pressekonferenz des WJC oder die Sequenz aus dem Hearing im US-amerikanischen Repräsentantenhaus, wo sich Waldheims Sohn Gerhard, der für seinen Vater in die Bresche sprang, von einem Kongressabgeordneten anhören muss, welche Einschätzung sich die Amerikaner über seinen Vater gebildet haben (»The American people feel that your father is a liar. They know that he is a liar«), damals zur Gänze zu sehen bekommen, Waldheim wäre mit noch deutlicher Mehrheit zum Bundespräsidenten gewählt worden. (In der Stichwahl am 8. Juni 1986 erhielt er 53,9 % der Stimmen.) Warum? Ich denke, zum einen aufgrund eines, in allen gesellschaftlichen Schichten der Bevölkerung auch in den 1980-er Jahren noch tief verankerten Antisemitismus, der, wie in Waldheims Walzer zu sehen ist, bei diversen Wahlkampfveranstaltungen auch ganz offen artikuliert wurde. Im Theatermonolog, Der Herr Karl, haben Helmut Qualtinger und Carl Merz an die Märztage des Jahres 1938 erinnert, an die Niedertracht der österreichischen Antisemiten, die nach 1945 ja keineswegs über Nacht verschwunden ist:
»Da war a Jud im Gemeindebau, a gewisser Tennenbaum. Sonst a netter Mensch. Da ham’s so Sachen gegen de Nazi g’schrieben auf de Trottoir .. und der Tennenbaum hat des aufwischen müssen. Net er allan, de anderen Juden eh aa… i hab ihm hingführt, dass ers aufwischt. Der Hausmeister hat glacht, er war immer bei a Hetz dabei. (…) Nochn Kriag is er zurückgekommen. Der Tennenbaum. Ich grüße ihn. Er schaut mich net an. Hab i ma denkt: na bitte, jetzt is er bees, der Tennenbaum. Dabei: Irgendwer hätt’s ja wegwischen müssen!«
Und zum anderen, weil nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in den USA, aber auch in Deutschland und anderen Staaten Westeuropas, breite Bevölkerungsmehrheiten die NS-Zeit mit dem Holocaust / der Shoah assoziierten. In Österreich hingegen sah sich Justizminister Christian Broda in den frühen 1970-er Jahren veranlasst, weitere Prozesse zu untersagen, um skandalöse Freisprüche durch die Geschworenensenate – so ist etwa Franz Murer, einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der Juden in Vilnius, trotz erdrückender Beweislage, von den Geschorenen im Jahre 1963 freigesprochen worden – zu vermeiden. In Österreich war die »Opferdoktrin« – Österreich war als Staat das erste Opfer Hitler-Deutschlands – gleichsam zur Staatsdoktrin geworden und tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Die Jahre von 1938 bis 1945 wurden als die Zeit der Entbehrungen, des Krieges und der Bombenangriffe abgespeichert, von der Anschlussbegeisterung, an die Qualtinger im Der Herr Karl erinnert, wollte keiner mehr etwas hören:
»Dann is eh da Hitler kuma. Na ja – es war eine Begeisterung … ein Jubel, wie man sich’s überhaupt net vorstellen kann nach diesen furchtbaren Jahren, nach diesen traurigen Jahren. Endlich amal hat der Wiener a Freid‘ g’habt. (..) Na ja, i waaß no … mir san olle am Ring und am Heldenplatz g’standen … unübersehbar warn mir … man hat gefühlt, man is unter sich … es war wia beim Heirigen … es war wia a riesiger Heiriger! … Aber feierlich!«
Erst im Zuge der Waldheim-Debatte sollte die »Opferdoktrin«, hinter der eine ganze Generation ihre NS-Verstricktheit entsorgen konnte, als Mythos entzaubert werden. Diese Ungleichzeitigkeit der Erinnerungskulturen hat die Heftigkeit und das Unverständnis auf beiden Seiten der Waldheim-Debatte geprägt.
Kurt Waldheim hat die Wahl vor allem deshalb gewonnen, weil seine Aussagen, wie »Ich habe nur meine Pflicht getan!« oder »Wir waren anständig!«, von weiten Teilen der Bevölkerung, über alle Parteigrenzen hinweg geteilt wurden. Der Journalist Werner Reisinger hat das kollektive Bewusstsein der Generation, der Waldheim entstammte, präzise beschrieben:
»In seinem Schicksal fand sich eine ganze Generation von Österreichern wieder, die den vom NS-Regime begonnenen Krieg als den ihren internalisiert hatten und sich arrangierten, um nicht in einen Gewissensnotstand zu geraten. Eine Generation, die bis Mitte der 80er Jahre gewöhnt war, nicht über ihren Dienst in der deutschen Wehrmacht oder ihre Verbindungen und ihre Involvierung mit und ihre Beteiligung am NS-Regime sprechen zu müssen.«
Dazu kamen haltlose Anschuldigungen in der US-Presse (so wurde Waldheim etwa in der Boulevardzeitung New York Post als »SS-Butcher« bezeichnet), die von den ÖVP-Wahlstrategen und den Pro-Waldheim-Medien reichlich ausgeschlachtet wurden, und überdies deuteten zahlreiche Indizien (die sich später bestätigen sollten) darauf hin, dass die SPÖ belastendes Material über Waldheim über diverse Kanäle durchsickern ließ. All das befeuerte das Pro-Waldheim-Lager und deren Strategie von der groß angelegten »Schmutzkampagne«, und Waldheim surfte auf der »Jetzt-Erst-Recht«-Welle in die Präsidentschaftskanzlei. »Er verkörpert das Land Österreich perfekt«, wie Hubertus Czernin damals in einem Interview feststellte, das in Waldheims Walzer zu sehen ist, »Er ist der Parade-Österreicher. Er ist der perfekte Präsident für Österreich. Aber es ist eine Schande!«
Wenngleich er beim zweiten Anlauf endlich Bundespräsident geworden war – beim ersten Antreten im Jahre 1971 unterlag er Franz Jonas, der als Bundespräsident im Amt bestätigt wurde –, musste er seine sechsjährige Amtszeit zumeist in der Hofburg absitzen. Von den USA auf die »Watchlist« gesetzt, wurde er im Westen zur persona non grata, und der damalige Bundeskanzler, Franz Vranitzky, übernahm de facto auch die Aufgaben eines Bundespräsidenten. Waldheim reiste bisweilen in Staaten des Ostblocks oder in arabische Staaten, wo er willkommen war, was, wie Beckermanns Film schlüssig dokumentiert, mit seinem Engagement für die Palästinenser während seiner Zeit als UN-Generalsekretär zusammenhing – eine Haltung, die er im Übrigen mit Bruno Kreisky teilte, der sich auch für ihn als Generalsekretär stark gemacht hatte. So konnte PLO-Chef Yassir Arafat am 13. November 1974 vor der UN-Vollversammlung sprechen – damit zum ersten Mal ein Politiker, der kein Staats- oder Regierungsvertreter war. Und, auch das sollte nicht vergessen werden, in den 1970-er Jahren wurden viele gegen Israel gerichtete Resolutionen angenommen, insbesondere die berüchtigte Resolution 3379, die als Anti-Zionismus-Resolution in die Geschichte der UNO eingegangen ist, in der Zionismus als eine Form des Rassismus und der Rassendiskriminierung bezeichnet und der Staat Israel in eine Reihe mit dem Apartheid-Regime in Südafrika gestellt wurde. In Ruth Beckermanns Film sieht man den israelischen UN-Botschafter und späteren israelischen Staatspräsidenten, Chaim Herzog, der seine Rede vor der UN-Vollversammlung mit folgenden Worten beendete: »For us, the Jewish people, this resolution based on hatred, falsehood and arrogance, is devoid of any moral or legal value. For us, the Jewish people, this is no more than a piece of paper and we shall treat it as such.« Und dann zerriss Herzog das Resolutionsdokument. Die Resolution wurde 1991 wieder zurückgenommen. Ja, und da war auch der Besuch des UN-Generalsekretärs in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem 1973. Waldheim weigerte sich, beim Totengebet eine Kippa aufzusetzen, wie es das jüdische Ritual verlangt – das Wohlwollen in der arabischen Welt war ihm wichtiger als der Respekt vor den Opfern. Israel zog daraufhin kurzfristig seinen Botschafter aus Wien ab.
Anfang Februar 1988 legte die internationale Historikerkommission, die von der Österreichischen Bundesregierung im Lichte der anhaltenden Proteste gegen Kurt Waldheim eingesetzt wurde, ihren Bericht vor. In den »Zusammenfassenden Schlußbetrachtungen« wurde insbesondere sein Leugnen, Vertuschen und Verharmlosen nachdrücklich kritisiert:
»Bei der Prüfung der Frage, wieweit bei Waldheim von einer Mitschuld am Kriegsunrecht gesprochen werden muß, ist von der im Bericht vielfach festgestellten Tatsache auszugehen, daß dieser in seinen Stabsfunktionen auf dem Balkan, trotz eines niedrigen Ranges, sicher weit mehr als nur ein zweitrangiger ‹Kanzleioffizier› war. Auch wenn er als Subalternoffizier in Stabsstellungen keine Exekutionsbefugnisse hatte, war er dank seiner Bildung und seinem Wissen sowie infolge der Einblicke, die er als Dolmetscher in die entscheidenden Führungsvorgänge erhielt, besonders aber aus seiner Tätigkeit im zentralen Nachrichtendienst seiner Heeresgruppe und seiner örtlichen Nähe zu den Geschehnissen hervorragend über das Kriegsgeschehen orientiert. Aus einer beträchtlichen Anzahl von Lageberichten und Kriegstagebuch-Eintragungen, die er entweder selbst verfaßt oder die über seinen Schreibtisch liefen, und insbesondere im Zusammenhang mit der Erarbeitung jener Lageberichte, die er mehrfach in den Chefbesprechungen auf Heeresgruppenebene vorgetragen hat, erhielt er einen tiefen und umfassenden Einblick in die Verhältnisse an den Fronten und namentlich auf dem Balkan. Auch wenn sein persönlicher Einfluß auf den Entscheidungsprozeß der obersten Führung (im Südosten) einerseits von seinen Widersachern etwas überbewertet worden ist und andererseits von seinen Verteidigern allzu sehr herabgemindert wurde, war Waldheim doch häufig in diesen Besprechungen zugegen, wirkte an diesen mit und war folglich einer der besonders gut orientierten Stabsangehörigen. Dabei waren seine allgemeinen Einblicke umfassend: sie bezogen sich nicht nur auf die taktischen, strategischen und administrativen Anordnungen, sondern schlossen in einigen Fällen auch die Handlungen und Maßnahmen ein, die im Widerspruch zum Kriegsrecht und den Grundsätzen der Menschlichkeit standen. (..) Waldheims Darstellung seiner militärischen Vergangenheit steht in vielen Punkten nicht im Einklang mit den Ergebnissen der Kommissionsarbeit. Er war bemüht, seine militärische Vergangenheit in Vergessenheit geraten zu lassen, und sobald das nicht mehr möglich war, zu verharmlosen. Dieses Vergessen ist nach Auffassung der Kommission so grundsätzlich, daß sie keine klärenden Hinweise für ihre Arbeit von Waldheim erhalten konnte.«
Da Kurt Waldheim den Bericht der Historikerkommission als »umfassende Entlastung« wertete, gingen die Wogen neuerlich hoch. Die SPÖ forderte geschlossen seinen Rücktritt, und Simon Wiesenthal, der Waldheim zuvor wiederholt gegen Kriegsverbrecher-Vorwürfe verteidigt hatte, deutete den Bericht als »Aufruf an die geistige und kulturelle Elite Österreichs, sich zusammenzutun und den Bundespräsidenten zum Rücktritt zu veranlassen«. Waldheim blieb bei seiner uneinsichtigen Haltung. In einem langen Gespräch, das die beiden ORF-Journalisten Peter Rabl und Hans Benedict nach Vorlage des Berichts der Historikerkommission mit ihm geführt haben, drohte er mit Gesprächsabbruch, weil er »solche Fragestellungen einfach nicht akzeptieren kann«, sah sich weiterhin als Opfer einer Hass- und Lügen-Kampagne und versuchte zb die von den Nazi-Truppen als Vernichtungskrieg geführte »Partisanenbekämpfung« auf dem Balkan (Hitler forderte die »totale Ausrottung der Partisanen«) als »Vergeltungsmaßnahmen« zu relativieren. (Das Gespräch ist in der ORF-TVTHEK zur Gänze nachzusehen.)
Im Jahre 1993, ein Jahr nach Ende der Amtszeit Kurt Waldheims, er verzichtete auf eine Wiederkandidatur, fand der erste offizielle Staatsbesuch eines österreichischen Regierungschefs in Israel statt – 45 Jahre nach der Gründung des Staates Israel. Bundeskanzler Franz Vranitzky bekannte sich in seiner Rede an der Hebräischen Universität Jerusalem zur »moralischen Verantwortung« Österreichs und bat die Opfer der österreichischen Täter im Namen der Republik um Verzeihung:
»Wir teilen die moralische Verantwortung, weil viele Österreicher den Anschluss begrüßten, das Naziregime unterstützten und bei seinem Funktionieren halfen. Wir dürfen jene nicht vergessen, die unaussprechliche Schicksale erlitten, wir dürfen jene nicht vergessen, die dieses Leiden verursachten, und wir dürfen jene nicht vergessen, die Widerstand leisteten. Wir bekennen uns zu allem, was in unserer Geschichte geschehen ist und zu den guten und schlechten Taten aller Österreicher. So wie wir für unsere guten Taten Kredit fordern, müssen wir für unsere schlechten um Verzeihung bitten– um die Verzeihung jener, die überlebt haben, und um die Verzeihung der Nachfahren der Opfer.«
Kurt Waldheim stand stellvertretend für den verlogenen Umgang einer ganzen Generation mit ihrer NS-Vergangenheit. Sein jahrzehntelanges Weglügen, Relativieren und Verharmlosen seiner Kriegszeit auf dem Balkan (Thomas Bernhard bezeichnete ihn als »Lügenpräsident«), der von ihm und seiner ÖVP offen propagierte Antisemitismus (zB. »die ehrlosen Gesellen des World Jewish Congress«, »eine kleine Gruppe, aber auf die amerikanischen Medien sehr einflussreiche Gruppe«, »Ostküste«, »Wir Österreicher wählen, wen wir wollen!«) und seine arrogante Verstocktheit, zu keiner Zeit eine Geste der Entschuldigung zu setzen, all das war niederträchtig und unerträglich! Und dennoch habe ich ihn einmal verteidigt: Im Rahmen der Ausstellung, 1945 – Niederlage. Befreiung, Neuanfang, im Deutschen Historischen Museum in Berlin habe ich der Aussage des Guides, Waldheim sei ein SS-Mann gewesen, der schwere Kriegsverbrechen begangen habe, sofort widersprochen und berichtigt.
Nach der Waldheim-Debatte wurde die »Opferthese« durch eine »Mitverantwortungsthese«, zunächst offiziell, auf Ebene der Republik, und allmählich auch im kulturellen Gedächtnis der Bevölkerung etabliert. Wenn Heidemarie Uhl im Jahre 2008 festgehalten hat, dass »die Berufung auf die Opferthese nur noch eine Minderheitenposition (ist), ein Argument aus dem Museum der Nachkriegsmythen, das in den relevanten gesellschaftlichen Deutungsinstanzen, vor allem auch in der Geschichtswissenschaft, praktisch keinen Rückhalt hat«, dann kann ihr vorbehaltlos zugestimmt werden.