Über die Verringerung der Grausamkeit

Albert Camus fotografiert von Henri Cartier-Bresson

Anfang 1940, mitten im Krieg, beginnt Albert Camus mit der Arbeit an seinem 1947 veröffentlichten Weltroman Die Pest. In der algerischen Stadt Oran krepieren zunächst massenhaft Ratten, und schon bald weisen die ersten Menschen Symptome auf, die auf den Pestbazillus hindeuten, übertragen von den Flöhen der Ratten. Der Arzt Bernard Rieux fordert die Behörden auf, rasch Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Seuche zu ergreifen; die Bürokraten werden aber viel zu spät aktiv – das Sterben hat längst begonnen. Die Stadt wird abgeriegelt, keiner kann rein, keiner kann raus – Ausnahmezustand. Der Priester Paneloux nimmt die Krankheit als Strafe seines Gottes an, aber im Angesicht des Todeskampfes eines kleinen Jungen – der erschütterndsten Passage des Romans – geht er in die Knie und ruft »Mein Gott, rette dieses Kind!«. Seine Klage bleibt ungehört, und der Priester rettet seinen Glauben, im Vertrauen auf die Gnade, die es ihm erlaubt, »zu lieben, was wir nicht verstehen können.« Diese Idee der Unterwerfung unter einen grausamen Willen kann und will der Arzt nicht gelten lassen: »Ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe. Und ich werde mich bis zum Tod weigern, diese Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden. (…) Da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es für Gott vielleicht besser, dass man nicht an ihn glaubt und mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu diesem Himmel zu erheben, in dem er schweigt.« Auch wenn Rieux in der Pest »eine Niederlage ohne Ende« sieht, muss er weiter machen, aus Mitgefühl.

»Leben heißt Handeln.« Diesen Satz schrieb Camus in einem seiner philosophischen Essays. Ein Satz, der gewissermaßen als Motto über seinem gesamten Werk stehen könnte. Man kann Die Pest als Allegorie auf die »braune Pest« lesen, also auf die Nazis, und, ganz generell, auf alle Formen totalitärer Regime. Als atheistischer »Existenzialist«, der später von dieser Zuschreibung gar nicht mehr so viel wissen wollte, blieb Camus, der den Begriff »des Absurden« geprägt hat, gegen jedwede Form politischer Heilslehren zeitlebens immun – ganz im Unterschied zu Jean-Paul Sartre –, weil er wusste, dass diese in der Barbarei enden. Gerade weil wir ungefragt in eine Welt kommen, deren einzige Gewissheit darin besteht, dass wir sterben müssen, folgerte Camus, dürften wir keine Zeit verlieren, nicht sinnlos in einer absurden Welt nach Sinn suchen oder uns in Hoffnungen flüchten, sondern wir müssten im Hier und Jetzt leben, in der radikalen Gegenwart, und die Verantwortung eines solchen Lebensentwurfes könne einzig im ganz konkreten Tun für andere liegen. Liebe und Solidarität sind die Zauberwörter, und es kann nur um die Vermeidung bzw. Linderung von Leid und Schmerz gehen – und es wird keine ewigen Siege für uns geben.

Kürzlich bin ich auf ein Interview in der NZZ gestoßen, in dem die Philosophin Mary Rorty den Kern des Denkens ihres Mannes, des Philosophen Richard Rorty, mit folgenden Sätzen umreißt, Sätze, die, wie ich meine, auch auf Albert Camus zutreffen:

»Für meinen Mann war die Reduktion der Grausamkeit das höchste Ziel seines philosophischen Engagements. Es ging ihm nicht um irgendwelche subjektiven oder objektiven Wahrheiten als solche, denn die Frage war für ihn immer, was in einer bestimmten Situation geboten ist. Richard war kein Metaphysiker, sondern ein praktischer Philosoph. In dieser Sicht ist das, was die Grausamkeit verringert, stets besser als das, was die Grausamkeit aufrechterhält oder gar erhöht – das ist ein verlässliches Kriterium.«

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