„Das ist die schlimmste Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg, da gibt es nichts zu beschönigen. Die ganze Branche ist einfach explodiert. Allerdings war das auch überfällig. Die US-Finanzbranche war völlig aufgebläht und rücksichtslos geworden. Jetzt werden ihr die Zügel angelegt.“ (Kenneth Rogoff)
Wenn ein Wirtschaftliberaler, wie der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds Kenneth Rogoff, davon spricht, dass man nicht mit „dünner Luft Geld verdienen kann“ (vgl. Spiegel-Interview), dann bezieht er sich darauf, dass der US-Finanzsektor jährlich rund ein Drittel aller Unternehmensgewinne einsackt, obwohl er nur rund 3-4% des Bruttosozialprodukts der Vereinigten Staaten erwirtschaftet. So hat etwa die größte amerikanische Investment-Bank Goldman Sachs im Jahre 2006 die unvorstellbare Summe von rund 25 Milliarden Dollar an Bonuszahlungen an seine 4000 Beschäftigten verteilt (= 6,25 Millionen Dollar pro Mitarbeiter im Durchschnitt).
Doch blenden wir kurz zurück:
Nach 9/11 hatte die Federal Reserve (FED) eine Niedrigzinspolitik forciert, um nach dem Platzen der Dotcom-Blase und den Terroranschlägen in New York Panikverkäufe an den Börsen zu verhindern. Kredite waren billig, wie schon lange nicht mehr zu haben, die Zinsen sanken zwischen 2001 und 2003 von 6,5% auf 1%, also unter die Inflationsrate. Gleichzeitig mit dieser Niedrigzinspolitik – und durch diese wiederum befördert – setzte ein Bauboom ein, der es vielen Amerikanern aus der Mittelschicht ermöglichte, sich den Traum vom eigenen Haus zu verwirklichen. Da die Nachfrage nach Häusern schneller stieg als das Angebot, also die Immobilienpreise ebenfalls in die Höhe kletterten, kamen so manche Amerikaner überdies auf die Idee, ihre auf Pump erworbenen Häuser als Geldmaschine zu verwenden: Sie verkauften das Haus mit Gewinn gleich wieder weiter. Daran haben vor allem Banken, Anleger und Kreditvermittler solange glänzend verdient, bis die Immobilienpreise in den Keller rasselten und die Kreditzinsen wieder anzogen.
Man müsste dem Krachen der Investment-Banken wie Lehman Brothers und aller noch folgender Banken, die mit Spekulationsgeschäften Abermilliarden verdient haben, keine Tränen nachweinen, wären die Folgen für die Realwirtschaft und damit für Millionen von Menschen nicht derart dramatisch, dass man zur Zeit überhaupt noch nicht abschätzen kann, was das konkret bedeuten wird.
Auf Grund des Volumens der Immoblienblase (Analysten sprechen von bis zu 8 Billionen Dollar, was rund 2/3 der jährlichen US-Wirtschaftsleistung wäre), und vor dem Hintergrund der globalen Finanzmarktvernetzung braucht man keine profunden Börsenkenntnisse zu besitzen, um zu ermessen, dass die Lage verdammt ernst ist. Bekanntlich haben alle großen Nationalbanken, die FED, die Europäische Zentralbank (100 Milliarden Euro allein in den letzten Tagen!), die Bank of England und andere Nationalbanken, seit Monaten wiederholt Milliarden an Dollars und Euro in den Markt gebuttert, um eine Geldknappheit im Finanzsystem zu verhindern. Wenn aber die Banken untereinander kein Vertrauen mehr haben, sich also kein Geld mehr leihen, wird’s allmählich wirklich dramatisch.
Und wer trägt Schuld an dieser Situation?
Wenn Rogoff der US-Regierung unter Georg W. Bush und dem Wegschauen bei der Bankenaufsicht und -kontrolle einen wesentlichen Anteil an der globalen Finanzmarktkrise zuweist, dann mag da schon was dran sein. Noch plausibler erscheint mir aber jener Aspekt, den der Wirtschaftsliberale Erich Streissler in einem Standard-Interview angesprochen hat:
„Seit 2000 wird weltweit mehr gespart als investiert: Kapitalverwertungsprobleme, hätte unser Freund Karl Marx gesagt. Die US-Banken nehmen zwei Drittel bis drei Viertel der Ersparnis-Überschüsse der ganzen Welt auf. Sie versuchen verzweifelt, damit irgendetwas zu machen. Gerade die letzte industrielle Revolution im Bereich Computer, Software, Internet war mit niedrigem Investitionsbedarf verbunden. Was macht man da mit den ganzen Ersparnissen? Finanzspekulationen, das ist die einzige Möglichkeit. Das heißt letztlich, Gewinne auf Kosten anderer zu machen, weil real nichts produziert wird.“
Im Lichte dessen ist die Aufregung über die Zockermentalität der Banken höchst fadenscheinig: Wenn die US-Notenbank jahrelang billiges Geld bereitgestellt hat, im Wissen, dass ohnehin unfassbar viel Geld im US-Finanzmarkt vorhanden war, das nicht in die Realwirtschaft investierbar war (Warum eigentlich nicht?), dann hat man die jetzt beklagte Casino-Mentalität mitbefördert, dann hat man die Gier von selbst angezündet, deren Flächenbrand man jetzt auf Kosten aller zu löschen versucht. Absurd, oder nicht?