Keine Abstimmung über Menschenrechte

Erst kürzlich hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)  in einem Urteil (Lautsi versus Italy, 3. November 2009) gegen Kreuze in Klassenzimmern ausgesprochen, mit folgender Begründung:

The presence of the crucifix – which it was impossible not to notice in the classrooms – could easily be interpreted by pupils of all ages as a religious sign and they would feel that they were being educated in a school environment bearing the stamp of a given religion. This could be encouraging for religious pupils, but also disturbing for pupils who practised other religions or were atheists, particularly if they belonged to religious minorities. The freedom not to believe in any religion (inherent in the freedom of religion guaranteed by the Convention) was not limited to the absence of religious services or religious education: it extended to practices and symbols which expressed a belief, a religion or atheism. This freedom deserved particular protection if it was the State which expressed a belief and the individual was placed in a situation which he or she could not avoid, or could do so only through a disproportionate effort and sacrifice.

Kreuze in Klassenzimmern diskriminieren Schüler, die sich zu einer anderen Religion oder zu keiner Religion bekennen, in ihrer (Religions)Freiheit; und insbesondere die Freiheit, keiner Religion anzugehören, unterliege einem besonderen Schutz! Das Kreuz in Klassenzimmern verstößt folglich gegen die Religionsfreiheit und ist klar diskriminierend – da mögen sich die Vertreter der christlichen Kirchen noch so echauffieren.

Man muss kein Menschenrechtsexperte sein, um absehen zu können, dass die Schweizer Regierung, sollte sie dem Wunsch der Mehrheit der Bevölkerung entsprechen und in Hinkunft den Bau von Minaretten per Verfassung untersagen, in einigen Jahren völlig zu Recht vom EGMR wegen Verstoßes gegen die Religionsfreiheit verurteilt werden wird. Sowohl der „Zwang“ zum Kreuz als auch das „Verbot“ Minarette zu bauen, sind eindeutige Verstöße gegen das Recht auf Religionsfreiheit, ein Recht, das durch Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt ist. Die Konvention ist von allen Mitgliedstaaten des Europarates – so auch von der Schweiz – ratifiziert worden.

Wenn ich, unter Berufung auf die Europäische Menschenrechtskonvention, darauf vertrauen kann, dass mein Recht, mich zu keiner Religion zu bekennen, geschützt wird, dann muss ich vice versa auch einem Muslim, Christen, Juden etc. zugestehen, dass sein Recht auf Ausübung seiner Religion gewährleistet wird.

P.S.: Der Ausgang der Volksabstimmung in der Schweiz hat mich genauso wenig überrascht, wie die Aufregung und Empörung in anderen europäischen Staaten angesichts dieses Votums. Ich denke, die Ergebnisse würden in Deutschland und Österreich, aber auch in vielen anderen europäischen Staaten nicht viel anders aussehen. Wer über Inhalte der Europäischen Menschenrechtskonvention abstimmen lässt, kann diese sofort abschaffen.

3 Kommentare zu „Keine Abstimmung über Menschenrechte

  1. Der damalige Justizminister Christian Broda, ein Politiker eines kalibers, wie es das heute leider nicht mehr gibt, pflegte zu sagen, dass eine Abstimmung über die Todesstrafe katastrophal ausgehen würde und er eine solche daher mit allen Mitteln verhindere. –
    Um etwas vorsichtigen Optimismus zu verbreiten, wage ich zu behaupten, dass das inzwischen nicht mehr so wäre. D.h. auf lange Sicht wirkt sich die bestehende Gesetzeslage auf die Meinung der Bevölkerung aus. Hinsichtlich Menschenrechte möglicherweise eine gute Nachricht…

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