Glücklicherweise hatte ich berufsbedingt das Vergnügen, das WM-Vorrundenspiel Frankreichs gegen die Schweiz in einem Café in Paris und jenes Deutschlands gegen die USA in einer Pizzeria in Berlin live mitzuerleben. Die französischen Fans im Café unweit des Place de la République waren vom glanzvollen Auftritt der Équipe Tricolore gegen die Nati zu Recht begeistert. Nach dem 5:2-Sieg dachte ich, Les Bleus werden die Deutschen – nach dem eher mauen Spiel gegen die USA – im Achtelfinale biegen, dann aber, im Viertelfinale an Kolumbien scheitern: James (Rodríguez), Juan Cuadrado und die anderen Kolumbianer waren einfach das attraktivste Team dieser WM in Brasilien …
Na ja, wie immer kommt es bekanntlich anders als man denkt (was nichts daran ändert, dass Kolumbien wunderbar war), und aus den beiden Semifinalpaarungen könnte sich ein Endspiel ergeben, das es schon einmal gab, nämlich bei der Weltmeisterschaft 1974, als in München die damalige Bundesrepublik Deutschland (BRD) gegen die von Johan Cruyff angeführte Elftal antrat. Als fußballinfizierter Bub hatte ich einige Spiele im Fernsehen gesehen und war vom fantastischen Kombinationsspiel der Oranjes schwer begeistert. Leider mussten sich meine Lieblinge der von Franz Beckenbauer angeführten und im Nachhinein betrachtet gar nicht so üblen Truppe aus Westdeutschland (der Panzerfußball kam erst danach und ist erst seit der Heim-WM 2006 dank Klinsmann/Löw verpönt) geschlagen geben. Nur zur Erinnerung: Damals spielten noch zwei deutsche Mannschaften, die auch in der Vorrunde aufeinander trafen: BRD gegen DDR hieß das, und der Magdeburger Jürgen Sparwasser traf zum 1:0-Sieg gegen die West-Deutschen.
Aber zurück zum Finale, heute vor 40 Jahren. Es war ein heißer Sommersonntagnachmittag, dieser 7. Juli 1974, so gegen 15.30 Uhr, an dem ich zusammen mit meinem Vater zum Nachbarhaus ging, wo ein Ehepaar aus Wien (er war mir als »Herr Sektionschef«, sie als »Frau
Sektionschef« bekannt), seit einigen Jahren seine Urlaube verbrachte. Jahre später, er war längst verstorben, sie im Dauerdelirium (meine Mutter besuchte sie einmal in ihrer Wohnung in Wien-Ottakring), erfuhr ich, dass er Sektionschef im Unterrichtsministerium gewesen war.
Warum wir dort waren? Zum einen, weil meine Großmutter die Zimmer für die Urlauber immer »fertig« machte, und auch ab und an für die Beiden kochte, wodurch wir uns mit der Zeit eben kennen lernten, soll heißen: Es wurde bis spät in die Nacht gesoffen, die Lust auf und das Verlangen nach Wein teilten die Beiden mit meinem Vater. Aber abgesehen von dieser für mich damals unverständlichen Leidenschaft verfügten die Urlauber aus Wien über ein Wunderding, das sich meine Eltern erst ein paar Jahre später leisten konnten/wollten: Einen »Color-TV«, wie mein Vater den Farbfernseher nannte! Meiner Erinnerung nach war ich vor allem vom wirklich guten Empfang fasziniert, kein Geriesel, wie bei uns zuhause. Vater musste immer an der Stange der Hausantenne herumdrehen, während meine Mutter ihre Anweisungen (»no a bissl«, »net soo vül«, »zruck«, »so iss guat«) durchs offene Wohnzimmerfenster gab, weil nach einem Gewitter oder Sturm die Bilder verschwunden blieben und das pure Rauschen angesagt war.
Herr und Frau Sektionschef hatten vorgesorgt: Belegte Brote (Extrawurst und Gurkerln), Soletti und Schartner Bombe Orange für mich, belegte Brote (Extrawust und Gurkerln), Wein und Zigaretten für die Sektionschefs und für Vater, der auch einen Doppler mitgebracht hatte. Der Herr Sektionschef und Vater waren für die Deutschen, die Frau Sektionschef für die Holländer, um – wie ich bald feststellen konnte – die beiden Männer ein bisschen zu ärgern, und ich war glücklich und in totaler Vorfreude auf das Spiel, das ohnehin nur meine Holländer gewinnen konnten.
Beinahe unmittelbar nach Anpfiff fiel auch schon das erste Tor: Nach Foul an meinem Idol Johan Cruyff verwandelte Johan Neeskens den Strafstoß zur 1:0-Führung. Der Rest ist Fußballgeschichte: Warum auch immer, Deutschland wurde Weltmeister. Ich war sehr enttäuscht, mein Vater und der Herr Sektionschef in bester Laune und zunehmend
betrunken (sie hatten andauern mit »Auf Deutschland!« die Gläser erhoben und mich irrsinnig genervt), und die Frau Sektionschef, eine kleine, zarte Frau, war bereits zur Halbzeit sturzbesoffen. Kurz vor Ende der Partei ist sie in ihrem Fauteuil einfach weggenickt. Nach dem Spiel bin ich nach Hause gegangen, voller Hass auf die Deutschen – vielmehr auf meinen Vater, der sich über deren Sieg freute.
Jedenfalls war ich seither immer von den Holländern und ihrem Spiel begeistert. Schon vier Jahre später sollten die Oranjes ja bereits wieder im Endspiel einer Fußballweltmeisterschaft stehen (Trainer: Ernst Happel), und nur von der – von mir damals noch mehr geliebten – Albiceleste, der argentinischen Nationalmannschaft, geschlagen werden. Ich sage nur: Mario Kempes, der Mann mit der für mich (damals) absolut coolsten Frisur, und trainiert von »El Flaco« (der Dürre), vom großen César Luis Menotti, der den Begriff vom »linken« und vom »rechten« Fußball geprägt hat. Damals spielten beiden Mannschaften einen »linken« Fußball, also einen offensiven, kreativen Fußball, für den das Spiel an sich im Mittelpunkt steht (das man trotzdem gewinnen will), im Unterschied zum »rechten« Fußball, dem es – wurscht wie – einzig um das Ziel (= Sieg) geht. (Vgl. dazu ein wunderbares Interview mit Menotti anlässlich Pep Guardiolas Einstieg als Trainer bei Bayern München).
Da die Elftal seit der WM in Südafrika im Jahr 2010 einen »rechten« Fußball spielt und seither Verrat an Johann Cruyff und allen anderen am kreativen Spiel Interessierten begeht, werde ich mich – falls es zu einer Wiederauflage des Finales aus 1974 kommen sollte – im Lager der Deutschland-Fans befinden!
Aber möglicherweise verliert Deutschland ja gegen Brasilien und die Albiceleste putzt die Oranjes weg …