Hans Petschar, Historiker und Leiter des Bildarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek, hat ein Buch mit dem Titel Anschluss – Eine Bildchronologie, veröffentlicht, in dem sich bislang unveröffentlichtes Fotomaterial findet, das rund um den Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland zwischen März und Mai 1938 entstanden ist. Es sind dies Bilder jenseits der Propaganda, also zum Teil private Aufnahmen und zum Teil Fotos, die aus der Hand von NS-Fotografen stammen, aber zensuriert wurden (das Cover des Buches zeigt Hitler mit Augenringen, fiebrig-glasigem Blick und Zahnlücke im offenem Maul).
Das Buch weist auf einen interessanten Umstand hin, den der Autor auch im Rahmen der CLUB 2 Diskussion am letzten Mittwoch angesprochen hat: Die Bilder aus der NS-Zeit, die wir im Kopf haben, etwa von den jubelnden Massen am Heldenplatz, sind zu fast hundert Prozent von Nazi-Propagandisten hergestellte. Dieser „späten Rache des Nationalsozialismus an der Geschichte„, wie Petschar formuliert, will er Fotos entgegenstellen, die nicht zur Gänze von der Goebbel’schen-Propagandamaschinerie kontrolliert werden konnten (hier findet sich eine große Auswahl dieser Fotos).
Abgesehen vom legitimen Anspruch des Historikers auf möglichst große Quellenvielfalt werde ich bei der Betrachtung des Fotomaterials nicht wirklich schlau, was hier der Goebbel’schen Propagandamaschinerie entgegengestellt werden soll, und wozu überhaupt?
Die Fotos, insbesondere jene, die Demütigungen und Erniedrigungen abbilden, denen sich Jüdinnen und Juden unmittelbar nach dem Anschluss ausgesetzt sahen – ob nun von NS-Fotografen oder von privater Hand hergestellt -, sind, und das muss man wohl unterstellen, Fotos von Tätern bzw. aus der Perspektive von Tätern, die wir Heutigen mit dem Ausdruck des Entsetzens wahrnehmen, weil wir das darauf Gezeigte als Untaten dechiffrieren. Wohlgemerkt, wir Heutigen erkennen das Gezeigte als Untaten; die Fotografen hingegen haben den Auslöser betätigt, weil sie die Aktionen begrüßt haben und ihnen durch die Fotografie gewissermaßen eine höhere Weihe geben wollten (vgl. dazu auch hier).
Susan Sontag, die sich immer wieder mit der Fotografie beschäftigt hat, hat das einmal so auf den Punkt gebracht:
„Die Voraussetzung für eine moralische Beeinflussung durch Fotos ist die Existenz eines relevanten politischen Bewusstseins. Ohne die politische Dimension wird man Aufnahmen von der Schlachtbank der Geschichte höchstwahrscheinlich nur als unwirklich oder als persönlichen Schock empfinden.“
Ein (historisches) Foto ist immer eine Konstruktion, es ist immer Propaganda im weitesten Sinn. Wir sollten uns daher immer wieder an Jean Luc Godards Kritik aus den Zeiten des Vietnamkrieges erinnern, als er den Kriegsfotografen vorwarf, sie seien Verbrecher, weil sie nicht eingegriffen haben, um das Unrecht, das sie mit ihrer Kamera fest gehalten haben, zu verhindern. Diese Kritik zielt im Kern genau auf jenen Teil der Realität, der sich gewissermaßen als nicht sichtbarer Mehrwert in das fotografische Bild eingeschrieben hat: Den Fotografen und seine Motive hinter der Kamera.
Dieser Mehrwert erschließt sich aber nicht aus dem Foto selbst, sondern einzig dadurch, dass man den Kontext erhellt. Erst dann kann man Fotos sehen. Susan Sontag hat daher über die Fotografie erzählt, sie hat die Bilder gegen Worte getauscht, und nebstbei einen der hellsichtigsten Sätze geschrieben, den ich je über die Fotografie gelesen habe:
„Das Problem besteht nicht darin, dass Menschen sich anhand von Fotos erinnern, sondern dass sie sich nur an die Fotos erinnern.“