Sommer 1979. Ein Wirtshaus im Waldviertel. Im „Extrazimmer“ standen ein Billardtisch, zwei Flipperautomaten und ein „Wuzzler„, also die großen Trostspender für jene quälenden Momente, in denen der Heranwachsende sich kaum mehr in der Lage sieht, sein sexuelles Begehren mit dem Verweis auf das „Prinzip Hoffnung“ zu bändigen. Zwischen diesen Rettungsapparaturen stand auch ein alter Wurlitzer aus den späten 1960-er Jahren. Neben deutschsprachigem Schlagergut war die Jukebox auch mit einigen zu jener Zeit gerade angesagten Songs aus den Pop-Charts bestückt. Ich erinnere mich noch, dass der Soundtrack zu unserem Automatensex vor allem aus den folgenden fünf Songs bestand: „Rivers of Babylon“ (Boney M.), „Tragedy“ (Bee Gees), „Born to be alive“ (Patrick Hernandez), „Chiquitita“ (Abba) und dem einzigen Song, den ich wirklich mochte, „Le Freak“ von Chic. Es war die Zeit der Disco-Musik, der „Scheiß-Disco„-Musik, wie ich zu sagen pflegte, die nicht meine Musik war. Meine Musik jener Jahre war die Rock-Musik der 1960-er, und frühen 1970-er Jahre, die, was mir damals überhaupt nicht in den Sinn kam, bis auf die große Ausnahme Jimi Hendrix, ausschließlich eine von „Weißen“ produzierte war. Aber „Le Freak“ gefiel mir, wenngleich ich das damals nie und nimmer eingestanden hätte. Der Song, mehrere Wochen Nummer 1 in den USA (Billboard Charts), schaffte als beste Platzierung den 6. Platz in den Ö3-Charts, wie ich jetzt herausgefunden habe.
An diesen längst vergangenen Wirthaussommertraum erinnerte ich mich, als Nile Rodgers, Mastermind von Chic, in dem hervorragenden Dokumentarstreifen Breaking the Rules, der sich mit der US-Amerikanischen Gegenkultur beschäftigt, über die Entstehung von „Le Freak“ folgende Story erzählte: Auf Einladung von Disco-Queen Grace Jones wollte er ins New Yorker Studio 54, in den späten 1970-er Jahren der hippste Discotempel der Welt, aber als „Schwarzer„, den die „weißen“ Türsteher nicht erkannten, blieb ihm der Eintritt verwehrt. „Aaaaahh, fuck off„, dachte er sich, und aus diesem „Aaaaahh, Fuck off“ wurde dann der Millionenseller „Aaaaahh, Freak out„, weil, wie er lächelnd anmerkt, das „F-Word„, heute in jedem Kinderprogramm zu hören, zu jener Zeit Radioverbot für einen Song bedeutet hätte.
Ob Mythos oder nicht, die Story ist deshalb wahr, weil sie den sozialen und politischen Kontext anspricht, der „black music„-Songs inhärent ist – unabhängig davon, ob sie den Kontext explizit ansprechen oder nicht. Amiri Baraka, Schriftsteller und Aktivist der Black Power Bewegung, hat das in seinem Buch „Blues People“ präzise erläutert. (Dass Amiri Baraka wiederholt mit antisemitischen Statements auffällig geworden ist, muss auch erwähnt werden.)
In „Breaking the Rules“ kommen neben vielen anderen auch Rodgers und Baraka zu Wort. Warum dieser Film so sehenswert ist, beschreibt der ARTE-Ankündigungstext, den ich mit Links versehen habe, durchaus treffend:
„Gemeinsam mit Ruth Weiss, Lawrence Ferlinghetti und Michael McClure betritt der Zuschauer die Clubs der 50er Jahre im New Yorker Village und in North Beach/San Francisco. Hier treffen Jazz und Poetry aufeinander. Mit Amiri Baraka und Melvin van Peebles träumt der Zuschauer von einer gerechteren Welt, in der Schwarze und Weiße als Brüder an einem Tisch sitzen, er kämpft mit Anne Waldman und Ed Sanders gegen den Vietnam-Krieg, braust mit Peter Fonda über die Highways, feiert mit Wavy Gravy und Ray Manzarek den „Summer of Love“ und wird an der Seite von Afrika Bambaataa, RZA, Kurtis Blow und Grandmaster CAZ Zeuge der ersten Hip-Hop-Blockparties in der Bronx.
Ein Phänomen verbindet dabei alle Bewegungen miteinander, die Kommerzialisierung von Gegenkultur. Der Film dokumentiert, wie nach einer anfänglichen Phase des Misstrauens und der Ablehnung seitens der etablierten Gesellschaft, der Markt die Codes der Gegenkultur übernimmt und Teil der Alltagskultur werden lässt. Doch Gegenkultur lässt sich nicht wirklich zähmen. Sie scheint vielleicht eine Zeitlang verschwunden zu sein, um dann umso überraschender wieder aufzutauchen – erst versteckt, dann aber immer lauter.