Jedes Jahr legt die Beratungsstelle für Zivilcourage und Antirassismusarbeit (kurz: ZARA) den Rassismus Report vor, der nach wie vor die einzige qualitative Datenquelle über Struktur und Ausmaß von Rassismus in Österreich ist. Der in diesem Jahr zum achten Mal herausgegebene Report hat insbesondere deshalb für Aufregung gesorgt, weil die Volksanwaltschaft auf Grund der Nichtbeachtung der von ZARA eingebrachten Anzeigen durch die zuständigen Behörden (von rund 100 Anzeigen werden lediglich fünf behandelt) eine so genannte Missstandsfeststellung bundesweit ausgesendet hat, damit in Hinkunft rassistische Diskriminierungen nicht mehr einfach als Bagatelldelikte abgetan werden. Die Einschaltung der Volksanwaltschaft hat sich bewährt: Sowohl der Bund als auch die Stadt Wien haben einen Erlass herausgegeben, wonach Rassismus nicht als Kavaliersdelikt zu betrachten und Anzeigen ernsthaft nachzugehen ist.
Neben der absolut notwendigen Stärkung der rechtsstaatlichen Komponente bedarf es aber auch intensiver Aufklärung und einer tatsächlich gelebten Zivilcourage – beides wesentliche Elemente der Antirassismusarbeit von ZARA.
Was man selbst tun kann gegen rassistische Diskriminierungen im Alltag, möchte ich kurz anhand von zwei Erlebnissen schildern, deren Zeuge ich in jüngster Zeit geworden bin.
Ort: Berlin, Nähe Alexanderplatz im ehemaligen Ostteil der Stadt. Zeit: Gegen 17.30 Uhr. Geschäftiges Treiben, Menschenmassen überall. Plötzlich sehe ich, wie eine etwa 30 jährige Frau, schwarzer Hautfarbe, einen etwa gleichaltrigen Mann, weißer Hautfarbe, links und rechts ohrfeigt, ihm so richtig eine schmiert, und ihn dabei anbrüllt: „Was hast Du gesagt? Was hast Du gesagt? Neger-Fotze? Du verdammter Arsch!“ Sie schlägt weiter auf ihn ein, brüllt ihn an. Der Typ versucht den Ohrfeigen kaum auszuweichen, er steht im Grunde wehrlos und beschämt in der Auslage. (Viele Passanten applaudierten der Frau, nachdem sie mitbekommen hatten, warum sie dem Kerl ein paar Watschen gab.)
Ort: Wien, Schwedenplatz. Zeit: Gegen 22.00 Uhr. Menschen warten auf die Straßenbahn, so auch ich. Überall Polizisten, ein Einsatz. Ich sehe, wie Jugendliche, darunter einige Schwarze, kontrolliert werden. Nicht unangenehm, die Polizisten verhalten sich korrekt. Vor mir steht ein etwa 50-jähriger Mann, dem das offenbar nicht passt. „Nehmt’s glei olle mit und schiebt’s as o, de Nega. Weida vurn, beim Donaukanal, san no vü mehr!“ Weil keiner der Umstehenden reagiert, wiederholt er seine Auswürfe, diesmal noch lauter brüllend. „Halt dei Goschn. Du wast doch gar net, um was da überhaupt geht!“ herrsche ich ihn an. Er blickt zu Boden und verstummt. Jetzt melden sich andere Umstehende: „Halts z’samm, du Trottel!„, „Spar’ da deine deppadn Sprüch!“ usw. (Ich muss gestehen, dass es mir nicht leicht gefallen ist, etwas zu sagen. Umso erleichterter war ich daher, als andere Passanten mich bekräftigten!)
Szenenwechsel – und doch nicht: Erweitertes Familientreffen, man sieht sich höchstens dreimal im Jahr. Fast unausweichlich tauchen irgendwann Geschichten auf, über „Bettler„, „Zigeuner“ usw., zwar nicht offen rassistisch, aber doch latent konnotiert. Was tun, um die Familienidylle zu bewahren? Ein Gegenbild muss her, eine Geschichte von einem guten Schwarzen, und hier ist sie, die schöne Geschichte:
Ort: Ikea, nach den Kassen beim Würstelbuffet. Eine Frau hat sich ein Paar Frankfurter gekauft, stellt die Würsteln auf einen der Stehtische, dreht sich um, um die Handtasche aus ihrem prall gefüllten Einkaufswagen zu holen, den sie einige Meter vom Tisch entfernt abgestellt hat. Als sie sich wieder umdreht, fällt ihr Blick auf einen schwarzen Mann, der offenbar gerade eines ihrer Würsteln genüsslich verspeist. Verwirrt geht sie zu ihm, sieht ihn kurz vorwurfsvoll an, nimmt sich dann sprachlos das andere Würstel und beginnt ebenfalls zu essen. Der Mann, nun seinerseits verwirrt, isst weiter. Beide starren sich an, beide futtern die Würsteln weiter. Nachdem der Mann seinen Einspänner gegessen hat, entfernt er sich vom Tisch, um kurz danach mit zwei Kaffee zurück zu kommen. Er bietet der Frau einen Kaffee an. Sie bedankt sich wortlos. Der Mann trinkt den Kaffee, verabschiedet sich und verschwindet. Die zurückgebliebene Frau blickt um sich und sieht am Nebentisch ein verwaistes Paar Frankfurter.
Natürlich lachen wir über die Verwechslung und freuen uns über das Bild vom braven schwarzen Mann. Schließlich hat er uns die Idylle gerade noch gerettet.
Beleuchtet man die Geschichte näher, wird man darin fast ein Lehrstück erkennen über den versteckten Rassismus und die nachhaltigen Folgen rassistischer Diskriminierung bei den Opfern: Während der schwarze Mann (ich unterstelle, sein Verhalten weist darauf hin, dass er vielfach Opfer rassistischer Diskriminierung geworden ist) in der weißen Fremde (= egal, ob er hier geboren wurde oder nicht) nicht das Offensichtlichste machen kann, das, was jeder von uns in einer vergleichbaren Situation machen würde, nämlich der Frau unmissverständlich klar zu machen, dass das seine Frankfurter sind („Finger weg! Das sind meine Würsteln!„), sondern seine Würde in Form einer wunderbar listigen Art und Weise sich bewahrt (indem er ihr auch noch einen Kaffee hinstellt), schweigt die Frau, weil sie ihren Ärger, über das Verhalten des Mannes, damit runterdrückt, dass sie ihn auf seine Hautfarbe reduziert. Ob sie ihr Nichtstun sozusagen linksliberal legitimiert („der arme Schwarze„) oder rechts („Ein Schwarzer! Der könnte mir was tun!„), spielt dabei überhaupt keine Rolle.
Eine schöne, traurige Geschichte, weil an unserem Lachen so gar nichts natürlich war – bloß ein tradierter, uns fast schon zur Natur gewordener kolonialer Blick auf den braven schwarzen Mann.