»Wenn schulbezogene Aufgaben nach Hause delegiert werden, dann ist das keine europäische Normalität, sondern ein Spezifikum der österreichischen und der deutschsprachigen Schule. In Frankreich oder in den skandinavischen Ländern (…) sieht die Schule ihren Bildungsauftrag darin, dass die Bildungskompetenzen der Eltern nicht fortgesetzt werden in den Kindern. (…) Die Schule kann auch so strukturiert werden, dass sie wesentliche schulbezogene Aufgaben nicht an die Familie delegiert.«
Diese zentralen Aussagen hat die Integrationsexpertin Barbara Herzog-Punzenberger im Rahmen einer CLUB 2 Diskussion zum Thema
Junge Türken – zwischen Integration und Verweigerung eingebracht. Sie bezog sich dabei auf Erkenntnisse des internationalen Forschungsprojekts TIES (The Integration of the European Second Generation). TIES erforscht die Bildungs- und Arbeitsmarktchancen von Menschen mit gleichem Migrationshintergrund in verschiedenen Ländern. Also: Welche Gründe lassen sich für unterschiedliche Bildungserfolge in verschiedenen Ländern finden? Warum verläuft der Übergang zum Arbeitsmarkt in einem Land reibungsloser als in anderen?
In einem Paper formulieren die Studienautoren insbesondere folgende Empfehlungen in Bezug auf die Struktur des Bildungssystems: Je früher Kinder mit Migrationshintergrund in den Kindergarten eintreten, umso rascher können sie allfällige sprachliche Defizite überwinden, und je mehr Jahre zwischen dem Bildungsbeginn und der Selektion in unterschiedliche Schultypen verstreichen, desto mehr Chancengerechtigkeit gibt’s für die Kids.
Wie weit wir hierzulande von diesen im Grunde No-Na-Empfehlungen entfernt sind, kann folgender Aussage des »Bildungssprechers« der ÖVP, Werner Amon, entnommen werden (aus einem Standard-Interview zur Ganztagsschule vom Oktober 2009):
»Uns ist nur wichtig, dass die Wahlmöglichkeit bei den Eltern bleibt. Wenn ich an einem Standort verschränkten Unterricht in den Nachmittag hinein anbiete, dann soll es gleichzeitig eine Variante geben, bei der die Kinder am Nachmittag zuhause sein können. Wir wollen die freie Wahl ins Zentrum rücken, gleichzeitig aber alle Formen zulassen.«
Amon ist ein vifer Kerl, er bezieht sich hier nämlich nicht auf ein und denselben Standort. Er meint zwei unterschiedliche Schulstandorte, an einem soll’s die Ganztagsschule geben, am anderen eben gerade nicht. Amon sagt damit aber nichts anderes als: Wir haben nichts gegen Ganztagsschulen in Österreich, wir tun nur alles, damit sie nie flächendeckend eingeführt werden. Wer von »freier Wahl« in Bezug auf das Schulsystem spricht, spricht sich zugleich gegen radikale Änderungen im Dienstrecht von Lehrerinnen und Lehrern aus – und damit gegen flächendeckende Ganztagsschulen.
Mein Mathematiklehrer in der AHS-Oberstufe hatte die Angewohnheit, viele seiner Sätze mit der Wortfolge »was zu beweisen war, natürlich nicht wahr, einzusehen!« zu beenden. Als wir Schüler das zum ersten Mal hörten, konnten wir uns vor Lachen nicht halten. Wochenlang achteten wir nicht auf seinen Unterricht, sondern einzig darauf, wie oft er dieses Satzfinish in einer Stunde unterbringen konnte (der Rekord lag bei gezählten 71 Mal). Nach einigen Wochen verebbte unser Interesse, vor allem nachdem wir die erste Schularbeit zurückbekommen hatten, und irgendwann gewöhnten wir uns an dieses, was zu beweisen war, natürlich nicht wahr, einzusehen!, ohne in Gelächter auszubrechen.
Was beim Mathematiklehrer ein Tick war, den er nicht mehr zu kontrollieren im Stande war, ist bei Amon und Konsorten eine bewusste Strategie: Wiederhole den bildungspolitischen Schwachsinn so lange, bis sich die anderen daran gewöhnt haben. Irgendwann werden sie aufhören, andere Positionen auch nur anzudenken.
Jüngstes Beispiel: Die Stadt Wien hat angekündigt, in den nächsten sieben Jahren die ganztägig geführten Standorte im Pflichtschulbereich (derzeit sind das 23 Volks- und vier Hauptschulen, ab Herbst kommen drei AHS hinzu) zu verdoppeln und in jedem Bezirk mindestens eine ganztägige Schulform anzubieten. Konkret heißt das, dass bis zum Jahre 2017 von den über 700 Wiener Schulen rund 50 als »verschränkt ganztägig« (= Unterricht, Übungszeit und Freizeit erstrecken sich über den ganzen Tag) geführt werden sollen.
Jetzt bin ich einmal optimistisch und nehme an, dass die Stadt Wien alle sieben Jahre den jeweiligen Ist-Stand an Ganztagsschulen verdoppelt, dann könnte die Ganztagsschule an allen Wiener Schulen in etwa bis 2045 umgesetzt sein.
Fazit: Wahlfreiheit forever!