Alljährlich vergibt der Österreichische Journalisten Club, die größte Journalistenorganisation Österreichs, den Claus-Gatterer-Preis an sozial engagierten Journalismus. Der mit 5000 Euro dotierte Preis erinnert an einen Journalisten, der in den 1960-er und frühen 1970-er Jahren zunächst als Printjournalist bei den „Tiroler Nachrichten“ und den „Salzburger Nachrichten„, danach im „Forum“ und im „Express“ tätig war, ehe er im Jahre 1972 zum ORF kam, wo er von 1974 bis zu seinem Tod im Jahre 1984 die Leitung des Fernsehmagazins „teleobjektiv“ innehatte.
Warum Claus Gatterer für dieses Land so wichtig war, zeigen zwei Artikel (der erste beschäftigt sich mit dem Fall Borodajkewycz, der zweite mit dem skandalösen Freispruch des Naziverbrechers Franz Nowak) die 1966 nicht in österreichischen Zeitungen, sondern in der renommierten „Zeit“ in Hamburg erschienen sind, und die ich im Zeit-Archiv entdeckt habe. Übrigens: In diesem Online-Archiv sind sämtliche seit 1946 in der „Zeit“ erschienene Artikel kostenfrei zugänglich!
DIE ZEIT, 27.05.1966 Nr. 22
Der Wiener Professorensturz – Das Ende der Affäre Borodajkewycz
Wien, Ende Mai
In einem lakonischen Vier-Zeilen-Kommunique teilte der Disziplinarsenat der Wiener Hochschule für Welthandel am vergangenen Wochenende mit, daß der zweiundsechzigjährige Historiker Professor Taras von Borodajkewycz strafweise in den dauernden Ruhestand versetzt worden ist. Keine Begründung, kein Kommentar. Das Ende der Affäre, die Österreich seit dem März 1965 bewegt, war in der Eindeutigkeit der Entscheidung ganz und gar unösterreichisch.
Das Kapitel Borodajkewycz ist wohl das betrüblichste in der Geschichte der Zweiten Republik. Der Historiker lehrte die Hörer, daß die österreichische Verfassung eine „Schöpfung des Juden Kelsen, der früher Kohn hieß“, sei und die Weimarer Verfassung ein Werk des „Juden Hugo Preuss“; vieles an Karl Marx, sagte er, sei nur verständlich, wenn man um dessen Herkunft aus dem Rabbinertum wisse. Rosa Luxemburg bezeichnete er als „jüdische Suffragette“.
Die „österreichische Nation“ kann für Borodajkewycz „nur zwischen Unkraut gedeihen“; das Jahr 1945 hat nach diesem Historiker „den bisherigen Kodex der Menschheit umgestülpt und Feigheit, Fahnenflucht, Verrat als die wahren Tugenden des österreichischen Mannes gepriesen“. Auch die österreichische Eigenstaatlichkeit ist für den großdeutschen Professor aus der Ukraine, der 1934 schon, obwohl Katholik, illegaler Nazi war und als Staatsarchivar „im Hause des Bundeskanzler selbst ein sicheres illegales Depot“ für die Nazibewegung errichtet hatte, zumindest problematisch. „Es ist nur ein. Teil der gesamtdeutschen Katastrophe“, schrieb er im Bonner „Parlament“, „daß wir deutschen Österreicher zum zweiten Male innerhalb einer Generation das größere Vaterland verloren haben“ — jenes Vaterland, in welchem „der glanzvollste Redner des zwanzigsten Jahrhunderts, der Redner par excellence“, Adolf Hitler, regierte.
Nicht gegen Borodajkewycz, sondern gegen das, was er lehrte, gingen am 31. März 1965 ehemalige Widerstandskämpfer, Studenten, „österreichische Österreicher“ aller Art in Wien auf die Straße; die Freunde des Historikers veranstalteten eine Gegendemonstration — angeblich um die Hochschulautonomie zu verteidigen. Bei einem Zusammenstoß wurde ein alter Mann — der Kommunist Ernst Kirchweger — niedergeschlagen und getötet; der Schläger war ein wegen rechtsextremistischer Betätigung schon vorbestrafter Student, Anhänger des „Ringes Freiheitlicher Studenten“ (RFS), jener Corps und Burschenschaften, die gerade an der Hochschule, an der Borodajkewycz lehrte, eine ihrer Hochburgen haben. Ein Zufall? Ein Zufall, daß aus den Reihen des RFS der Propagandist des Südtirolterrors, Norbert Burger, und viele der Freiwilligen seiner „Kinderkreuzzüge gegen Italien“ kommen? Das Üble am Fall Borodajkewycz war, daß die Geister, die er freigesetzt hat, weiter wirkten und weiter wirken.
„Ein Symptom wäre bereinigt. Wer wagt sich an die Ursachen?“ fragte die katholische Wiener „Furche“. Einen Tag nach der Zwangsbeurlaubung des Historikers sandte NBC in Amerika einen Dokumentarfilm über antisemitische Strömungen in Österreich. Borodajkewycz kam in der Sendung auch selber zu Wort: er sei, sagte er, an antisemitischen Regungen völlig schuldlos; er werde nur verfolgt, weil er sich als Deutscher fühle und weil er offen bekenne, Nazi gewesen zu sein. Hatten die meisten Österreicher den Spruch des Disziplinarsenats gegen den Historiker ungerührt gelassen zur Kenntnis genommen, die Tatsache, daß die Amerikaner nach antisemitischen Regungen in Österreich zu forschen wagten, regte nun sehr viele sehr heftig auf.
Die „Neue Front“, das Zentralorgan der Freiheitlichen, meinte, die „notorischen Neonazigespensterseher“ hätten den „Hetzfilm über Österreich“ nur wegen der exorbitant hohen amerikanischen Honorare „zusammengebraut“. Der sozialistische „Expreß“ und das ÖVP-Zentralorgan „Volksblatt“ hielten den Amerikanern in seltener Einmütigkeit die Rassisten im eigenen Haus („gummikauende, Hamburger essende Ku-Klux-Klan-Leute“) und den strammen österreichischen Antikommunismus vor. An diesem Film „An Austrian Affair“ reagierte man also ab, was sich an dem endlich bereinigten Fall Borodajkewycz schicklicherweise nicht abreagieren ließ. Auch dies ein Symptom? Wahrhaftig: „Wer wagt sich an die Ursachen?“
DIE ZEIT, 14.10.1966 Nr. 42
Wien, im Oktober
Heimat bist du großer Söhne?“ Diese Verszeile aus der österreichischen Nationalhymne wurde, groß auf ein Transparent gemalt, einem Zug von Studenten vorangetragen, die gegen den Freispruch des „Fahrdienstleiters des Todes“, Franz Novak, durch ein Wiener Geschworenengericht demonstrierten.
Novak, 1913 geboren, seit 1929 in der HJ, 1934 am NS-Putsch in Österreich beteiligt, mit Adolf Eichmann zur „Endlösung der Judenfrage“ in Wien, Prag und Budapest eingesetzt und für die Organisation der Massentransporte in die Vernichtungslager mit einer steilen SS- Karriere belohnt — dieser Franz Novak lebte gutbürgerlich als Druckereileiter in Wien und erhielt sogar die österreichische Staatsbürgerschaft wieder. Bis 1960 als „Abfallprodukt“ des Eichmann-Verfahrens sein Steckbrief nach Wien gelangte.
Im ersten Prozeß wurde er 1964 wegen „öffentlicher Gewalttätigkeit“ zu acht Jahren verurteilt; der Oberste Gerichtshof aber hob den Spruch wegen eines formalen Fehlers auf. Im zweiten Prozeß wurde die direkte Mitschuld Novaks an den Massenvernichtungen noch klarer nachgewiesen. Das Ergebnis: Die Geschworenen erkannten ihn mit 7 zu 1 Stimmen der „öffentlichen Gewalttätigkeit“ schuldig; billigten ihm aber „unwiderstehlichen Zwang“ — Befehlsnotstand — zu. Novak verließ den Gerichtssaal als freier Mann.
Novak hatte keinen Befehlsnotstand geltend gemacht, aber die Geschworenen in ihrem „gesunden Volksempfinden“ billigten ihm diesen zu. Das erschien ihnen offenbar ganz selbstverständlich. Und wie sollte es denn auch anders sein, wenn die Staatsanwaltschaft Beihilfe zum millionenfachen Massenmord zur „öffentlichen Gewalttätigkeit“ bagatellisiert? Wenn seit spätestens 1949 allen ehemaligen Nazigrößen gemäß Österreichs offizieller Formel, das „erste Opfer des Nationalsozialismus“ gewesen zu sein, Generalabsolution erteilt wird? Wenn Minister den grassierenden Antisemitismus wider besseres Wissen leugnen und manche Parteien ihn sogar ungeniert im Wahlkampf benützen? Wie sollte es anders sein, wenn den durch Bluturteile belasteten Dienern der Justiz nicht nahegelegt wird, freiwillig in Pension zu gehen? Wenn Hitlers Krieg noch heute als ein „antibolschewistisches“ Unternehmen (mit einigen bedauerlichen Exzessen) definiert wird?
Nicht für Novak gilt der Notstand. Er gilt für die österreichischen Geschworenen. In sechzehn Kriegsverbrecher-Prozessen seit 1960 gab es acht Freisprüche, und der für die Deportierung von rund 100 000 holländischen Juden verantwortliche Rajakowitsch kam, wegen „öffentlicher Gewalttätigkeit“ verurteilt, mit 30 Monaten Kerker davon.
Auf einen „Fortschritt“ muß indessen hingewiesen werden: In Wien wurde zu Novaks Freispruch nicht schon im Gerichtssaal applaudiert, wie sonst üblich ist.